0

Über Grenzen hinweg

Transnationale politische Gewalt im 20. Jahrhundert

Erschienen am 13.04.2022, 2. Auflage 2022
49,00 €
(inkl. MwSt.)

Lieferbar innerhalb 1 - 2 Wochen

In den Warenkorb
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593516455
Sprache: Deutsch
Umfang: 371 S.
Format (T/L/B): 2.4 x 21.2 x 14 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Terroristische Netzwerke operieren global, 'foreign fighters' schließen sich dem 'Islamischen Staat' an und kehren teilweise wieder in ihre westlichen Ursprungsländer zurück. Anhand von Fallstudien aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet dieses Buch eine theoriegestützte Annäherung an das Phänomen grenzüberschreitender politischer Gewalt, wobei es erstmals überhaupt den Aspekt der Transnationalität selbst ins Zentrum rückt. Was sind die Ursachen und Triebkräfte von Transnationalisierungsprozessen? Wie beeinflusst Transnationalität die Akteure, Formen und Ausübung von politischer Gewalt? Und mit welchen Methoden können Historiker transnationale Strukturen und Prozesse untersuchen?

Autorenportrait

Adrian Hänni ist Dozent für Politikgeschichte an der FernUni Schweiz und Visiting Scholar an der Georgetown University in Washington DC. Daniel Rickenbacher ist Assistent und Lehrbeauftragter am Seminar für Nahoststudien der Universität Basel. Thomas Schmutz ist Doktorand an der Universität Zürich und an der University of Newcastle in Australien.

Leseprobe

Transnationale politische Gewalt: Grundriss eines neuen historischen Forschungsfelds Adrian Hänni Einleitung Am 21. April 2019, dem Ostersonntag, wurde Sri Lanka jäh von brutaler Gewalt erschüttert. Bei mehr oder weniger gleichzeitig verübten, koordinierten Selbstmordanschlägen auf drei Kirchen und drei Luxushotels verloren über 250 Menschen ihr Leben, weitere 500 wurden verletzt. Als Organisation hinter den Anschlägen wurde rasch die sri-lankische islamistische Gruppe National Thowheeth Jamaath (NTJ) ausgemacht. Die international wenig bekannte Organisation hatte sich offenbar in den letzten drei Jahren als Gegenreaktion gegen die starke Zunahme extremistischer und mitunter auch gewalttätiger buddhistischer Gruppen gebildet. 2018 musste die Regierung Sri Lankas nach Mob-Attacken gegen Muslime sogar einen landesweiten Notstand ausrufen. Experten rieben sich verwundert die Augen. Wie konnte die NTJ, deren Gewaltrepertoire sich bislang anscheinend auf Vandalismus gegen Buddha-Statuen beschränkt hatte, eine solch komplexe Anschlagserie durchführen, die einiges an taktischer Expertise und finanziellen Mitteln abverlangte? Die folgenden Tage brachten etwas Klärung. Der Islamische Staat (IS) übernahm die Verantwortung für das Massaker. Später erschien zudem ein Video mit IS-Oberhaupt Abu Bakr al-Baghdadi, in dem einer der führenden Attentäter einen Treueeid auf den IS ablegt. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte letzterer die Militanten des NTJ logistisch, mit taktischer Beratung und möglicherweise militärischer Ausbildung unterstützt. Da Muslime in Sri Lanka in den letzten fünf Jahren häufig von buddhistisch-extremistischen Gruppen angegriffen wurden und die Gewalt der NTJ zuvor gegen buddhistische Ziele gerichtet war, könnte der IS auch die Auswahl der Ziele - christliche Kirchen und Touristen - beeinflusst haben. Die Hintergründe der Selbstmordanschläge werden noch im Detail zu recherchieren sein. Die Bluttat ruft aber in jedem Fall eindringlich in Erinnerung, welche Bedeutung Transnationalität bei der Manifestation von politischer Gewalt zukommen kann. Transnationale politische Gewalt hat in den letzten Jahren immer wieder die Schlagzeilen dominiert. Der IS und andere gewalttätige jihadistische Gruppen gehörten dabei nicht nur zu den brutalsten Akteuren, sie fanden in der öffentlichen Diskussion auch besonders viel Aufmerksamkeit. In einem Aufsatz von bemerkenswerter analytischer Klarheit hat Martha Crenshaw die verschiedenen transnationalen Elemente aufgeschlüsselt: Als Bürgerkriegsakteure im Nahen Osten, in Afrika und in Asien führen jihadistische Gruppen terroristische Gewalt in Nachbarländern und im Westen durch, sie rekrutieren foreign fighters und inspirieren bisweilen lone actors in westlichen Gesellschaften zu Gewaltakten. Außerdem gehen sie transnationale Koalitionen ein, die weit voneinander entfernt liegende lokale Konflikte miteinander verknüpfen, besonders augenscheinlich etwa die verschiedenen 'al-Qaida-Ableger' ab den späten 2000er Jahren und die 'Provinzen' des IS außerhalb von Irak und Syrien ab 2014. Schließlich überqueren jihadistische Gruppen nationalstaatliche Grenzen, um in Ländern mit geschwächter Zentralgewalt sichere Rückzugsgebiete zu finden. Einige gewalttätige Akteure mit islamistischer Ideologie handeln zunächst im nationalen oder gar lokalen Rahmen und entschließen sich zum Teil erst nach Jahren des bewaffneten Kampfes für eine Transnationalisierungsstrategie. Beispielhaft ist Boko Haram, eine zunächst nichtgewalttätige, politisch-religiöse Organisation, die ab 2009 einen bewaffneten Aufstand im Nordosten Nigerias führte. Im Jahr 2014 begann Boko Haram in Kamerun, Tschad und dem Niger Anschläge zu planen. Diese Nachbarstaaten Nigerias hatten von der Afrikanischen Union ein Mandat erhalten, die Ausbreitung der jihadistisch mobilisierten Gewalt einzudämmen. 2015 kam es zu einem weiteren Transnationalisierungsschritt. Boko Haram schwor dem Islamischen Staat Treue und erhielt vom IS in der Folge propagandistische Unterstützung. Der Doppelanschlag auf zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt Christchurch, der 50 Menschen das Leben kostete, führte im März 2019 auch einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen, dass transnationale terroristische Gewalt nicht nur ein islamistisches Phänomen ist. Der nicht zuletzt durch mehrere Europareisen radikalisierte, rechtsextreme australische Attentäter Brenton Tarrant war ideell stark von der französischen Génération Identitaire und der Identitären Bewegung Österreichs (IBÖ) beeinflusst. Tarrant rezipierte insbesondere die in jenen rechtsradikalen Milieus populäre und etwa vom IBÖ-Führer Martin Sellner prominent verbreitete Verschwörungstheorie des 'großen Austauschs', gemäß der liberale Politiker im Westen das Ziel verfolgten, weiße Europäer durch muslimische Einwanderer zu ersetzen. Dieser Ideentransfer widerspiegelt sich im Manifest des Gewalttäters, das sogar den Namen The Great Replacement trägt. Darin erklärt Tarrant weiter, dass er von rechtsextremistischen Anschlägen in Norwegen, den USA, Italien, Schweden und England beeinflusst worden sei. Außerdem würdigte Tarrant den Attentäter des Anschlags auf eine Moschee in Quebec im Januar 2017, dessen Ansichten ebenfalls rechts-radikal, antimuslimisch und vom 'weißen Nationalismus' geprägt waren, indem er seinen Namen auf eine der eingesetzten Waffen schrieb. Dieser kanadische Attentäter wiederum hatte sich ausführlich mit Dylan Roof beschäftigt, der im Juni 2015 bei einem Anschlag auf eine Kirche in Charleston im US-Bundesstaat South Carolina neun schwarze Gläubige getötet hatte, mit dem Ziel, einen Rassenkrieg auszulösen. Diese Kette von Verbindungen gibt einen Einblick in ein informelles, weltweites Netzwerk, durch welches Ideen und gewaltförmige Taktiken zirkulieren. Die durch dieses Netzwerk lose miteinander verbundenen Gewaltakteure denken zumeist global, haben die Errichtung einer transnationalen Bewegung zum Ziel und sehen sich als Teil einer weißen imagined community. Ihre Gewalttaten im Westen ereigneten sich in den letzten Jahren in größerer Häufigkeit. Gemäß einer Analyse, die sich auf Daten der Global Terrorism Database des National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START) an der University of Maryland stützt, wurden zwischen 2011 und 2017 in Europa, Nordamerika und Australien beinahe 350 rechtsextremistische terroristische Anschläge verübt. Mindestens ein Drittel dieser Gewalttäter wurde entweder von anderen inspiriert, die ähnliche Anschläge verübten, nahm öffentlich auf sie Bezug oder zeigte ein Interesse an ihrem Handlungsrepertoire. Neben jihadistischen und rechtsextremistischen Akteuren wurde transnationale Gewalt in der jüngsten Vergangenheit aber auch im Zusammenhang mit traditionellen politischen Mächten wie Russland und Iran diskutiert, die außerhalb ihres eigenen Territoriums nicht nur durch reguläre Streitkräfte, sondern zunehmend auch durch transnationale, paramilitärische Strukturen operieren, wie sich ab dem Frühjahr 2014 beim Waffengang in der Ostukraine oder während des Kriegs in Syrien gezeigt hat. Es verwundert deshalb wenig, dass die Feststellung, dass wir in einer vernetzten Welt leben, in der Gewalt und Terrorismus Grenzen überschreiten, fast schon zum Topoi geworden ist. Auch wenn sich hier, unterstützt durch mediale Innovationen, ein historischer Trend im 21. Jahrhundert zu akzentuieren scheint, haben Gewaltgemeinschaften schon ab der Antike bisweilen über staatliche Grenzen hinweg operiert. Spätestens seit dem Zeitalter der Revolutionen und der Entstehung moderner Gesellschaften im späten 18. Jahrhundert besitzen transnationale Netzwerke eine bedeutende Funktion für Gewalt ausübende politische Akteure. Es scheint also durchaus bemerkenswert, dass der Beginn des Zeitalters transnationaler politischer Gewalt historisch mit dem Aufstieg des Nationalstaats zusammenfällt. Ausgerechnet jener Institution also, die versucht hat, die über Grenzen hinausgehenden ...