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Leben im Ausnahmezustand

Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970-1993)

Erschienen am 25.04.2014, 1. Auflage 2014
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593500850
Sprache: Deutsch
Umfang: 368 S.
Format (T/L/B): 2.7 x 21.9 x 14.9 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

1977 ermordeten Terroristen der RAF den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Die Bedrohung durch diese Attentate stellte die deutschen Sicherheitsbehörden damals vor völlig neue Herausforderungen beim Schutz der höchsten Repräsentanten des Staates. Das Bundeskriminalamt, geleitet von Horst Herold, entwickelte daher neue, professionellere Personenschutzkonzepte. In dieser umfangreichen Zeitzeugenstudie, in der mit Helmut Schmidt, Gerhart Baum, Hans-Jochen Vogel oder Roman Herzog hochrangige Vertreter der damaligen politischen Elite zu Wort kommen, fragt die Autorin, wie die Politiker und ihre Familien mit dem ständigen Personenschutz umgingen, dessen rechtliche und institutionelle Grundlagen in den 1970er-Jahren entstanden. Welcher emotionale Habitus bestimmte ihren Umgang mit der Bedrohung? Wie veränderte sich ihr Verhalten im öffentlichen und privaten Raum? Beeinflussten Unsicherheit und Angst ihr politisches Handeln? Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2014

Autorenportrait

Maren Richter ist promovierte Historikerin, Ausstellungskuratorin und freie Autorin.

Leseprobe

Einleitung »Es ist ein ungeheuerlicher Verlust an Freiheit«, erinnert sich Horst Herold an seine Zeit unter Personenschutz. Der ehemalige Präsident des Bundeskriminalamts (BKA) zählte in den siebziger und achtziger Jahren zu den höchst gefährdeten Personen in der Bundesrepublik Deutschland und wurde daher von einem ständigen Schutzkommando begleitet. Der Linksterrorismus war für ihn wie für zahlreiche andere sogenannte Schutzpersonen aus Politik, Justiz und Wirtschaft eine sehr persönliche Angelegenheit, die weitreichend das Privatleben und die Lebensgewohnheiten beeinflusste. Unter Personenschutz zu stehen bedeutete für die Betroffenen und ihre Familien ein Leben im Ausnahmezustand. Dabei ist der moderne Personenschutz eine Geschichte, die noch nicht erzählt wurde. Er bestimmte aber das Leben einer ganzen Generation von Entscheidungsträgern. Davon handelt dieses Buch. Die Terrorismusforschung, die sich mit den geschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren befasst, ist vorwiegend eine Tätergeschichte. Die Opfer der terroristischen Bedrohung, die einen menschlichen Verlust erlitten oder deren Lebensführung völlig umgewälzt wurde, standen bisher selten im Mittelpunkt. Dieses Buch nimmt bewusst die andere Seite in den Blick und lässt gefährdete Persönlichkeiten aus Staat und Justiz, die unter Personenschutz gestellt wurden, zu Wort kommen. In über 20 Zeitzeugeninterviews mit Mitgliedern der damaligen Bundesregierung, mit Richtern und Sicherheitsexperten äußern sich diejenigen, die durch die terroristische Bedrohung ganz persönlich betroffen waren sowie die politischen Geschehnisse und die gesellschaftlichen Stimmungen mitprägten. Damit ist diese Terrorismusgeschichte mehr als nur eine Struktur- oder Politikgeschichte dieser Zeit, wie sie zahlreich über die Antiterrorismuspolitik der Bundesregierung, über das System der Inneren Sicherheit oder über die Terrorismusdebatten in Medien und Öffentlichkeit verfasst wurden. Sie fragt vielmehr danach, wer die Politik gestaltet hat und von welchen konkreten Lebensumständen diese Akteure beeinflusst waren. Wie waren sie ganz persönlich von dieser Zeit betroffen? Wie wirkte sich die Bedrohung auf ihre Familien aus? Wie veränderte sich ihr Privatleben und damit ihre Raum- und Sicherheitswahrnehmung, die sie in ihre politischen Entscheidungsprozesse einbrachten? Um diese Fragen zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was es bedeutete, Personenschutz zu erhalten, wie genau das Schutzkonzept umgesetzt wurde und wie sich die Strukturen des Personenschutzes in der Auseinandersetzung mit dem Linksterrorismus entwickelten. Dem Personenschutz galt bislang kaum das Interesse historischer Forschung - schon gar nicht aus der Perspektive der Betroffenen. Dabei ist das Thema bereits Teil der heutigen Unterhaltungskultur geworden, wie die dänische Krimiserie »Protectors« oder Erzählungen von prominenten Persönlichkeiten zeigen. In der Bundesrepublik Deutschland war es vor allem der Linksterrorismus der siebziger und achtziger Jahre mit seiner allgegenwärtigen Bedrohung, der eine neue und spezifische Art von Personenschutz hervorbrachte. Der Terrorismus definierte sich damals in der Auseinandersetzung mit einem »System«, dessen Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Justiz als potenzielle Anschlagsziele galten. Durch die kriminellen Akte der »Roten Armee Fraktion« (RAF) und der »Bewegung 2. Juni« ergaben sich völlig neue Bedrohungsszenarien. Alle Repräsentanten des Staates standen plötzlich im Visier terroristischer Gruppen und mussten von Personenschützern - den »Engeln ohne Flügel« - bewacht werden. Politiker in Bonn und Vertreter der Justiz, der Wirtschaft und des Finanzwesens waren in ihrer persönlichen Sicherheit gefährdet. Diese neue »Sicherheitslücke« im System der Inneren Sicherheit sollte der Personenschutz füllen. Das erste Kapitel der Untersuchung zeichnet nach, wie der Personenschutz nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde und wie er nach den ersten Terrorereignissen 1970 in der Öffentlichkeit wie auch bei politischen und staatlichen Organen zunehmend Beachtung fand. Der Personenschutz wurde zu einem weitgehend neuen Politikfeld. Mit der Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) im Jahr 1973 wurde die Zuständigkeit für den Personenschutz auf die Sicherungsgruppe des BKA übertragen. Die Länderpolizeien, aufgrund der föderalen Verfasstheit der Bundesrepublik Inhaber der Polizeihoheit, übernahmen ebenfalls vermehrt Personenschutz-Aufgaben. Doch zunächst musste geklärt werden, welche Personen überhaupt gefährdet waren. Dies setzte systemische Überlegungen und Anstrengungen voraus, für die es kein Vorbild gab. Die Sicherungsgruppe entwickelte zur Einordnung der Schutzpersonen ein Gefährdungssystem, das regelmäßig in kurzen Zeitabschnitten überprüft wurde. Anhand von Gefährdungsanalysen und Sicherheitsszenarien versuchten die BKA-Beamten die Gefährdungsstufe einzuschätzen. Mit steigendem Sicherheitsbedürfnis wurde es dabei immer schwieriger, die Wünsche vieler potenziell Gefährdeter nach mehr Sicherheitsmaßnahmen abzuweisen. Wurden 1976 noch 34 Personen durch Schutzbeamte ständig begleitet, so waren es nach dem »Deutschen Herbst« im November 1977 mit 63 Personen fast doppelt so viele. Im Zusammenhang mit dem Höcherl-Bericht von 1978, der die Pannen bei der Schleyer-Fahndung untersuchte, stellten die Sicherheitsexperten fest, dass das BKA mit dem Personenschutz völlig »überlastet« sei. Konnte das BKA eine Rationalität der Sicherheitsvorkehrungen überhaupt noch gewährleisten? Oder verselbstständigte sich die Verordnung von Sicherheitsmaßnahmen und gewann mit steigender Zahl von Todesopfern an Eigendynamik? Diesen Fragen geht das zweite Kapitel anhand ausgewählter linksterroristischer Ereignisse zwischen 1972 und 1993 nach. Die Sicherheitsexperten waren mit dem modernen Sicherheitsdilemma konfrontiert, dass die präventive Wirkung des Personenschutzes nur schwer zu beweisen ist. In einem solchen Präventionsregime ist die Rationalität von politischem Handeln oftmals besonders gefährdet. Der damalige BKA-Präsident Horst Herold berichtet dazu im persönlichen Gespräch mit der Autorin, dass es nach dem Buback-Mord 1977, der für alle einen »Riesenschock« darstellte, zu »Auswüchsen im Personenschutz« gekommen sei. Der Personenschutz sei explodiert, die »ganze Richterschaft« hätte Anträge gestellt. Auf die Frage, wie all diese Anfragen denn so schnell geprüft werden konnten, antwortet Horst Herold: »Das wurde dann pauschal gemacht.« Schließlich wurde der wachsende Umfang an Personenschutzmaßnahmen auch für die Öffentlichkeit sichtbar. Die Kolonnen schwarzer Limousinen, die abgesperrten Straßen oder die von Personenschützern abgeschotteten Politiker blieben nicht unbemerkt. Ganz Bonn schien »ständig auf Wache« zu sein. Die »Verbunkerung des Regierungsviertels« war für Beobachter ein Zeichen für den »alltäglichen Ausnahmezustand«. Das aufgeheizte, gesellschaftliche Klima und die diffuse Bedrohung führten im Personenschutz zu einer hohen Emotionalität, wie das dritte Kapitel aufzeigt. Der Übergang vom Sicherheitsbedürfnis zum Prestigedanken war oft fließend. Nicht wenige Schutzpersonen schmückten sich mit Personenschützern und Kommandogrößen wie mit Orden. Wie zahlreiche Presseartikel zeigen, nahm auch die Öffentlichkeit den Personenschutz als Statussymbol wahr. Tatsächlich war die Einordnung in das Gefährdungssystem des BKA eine sehr konkrete Positionierung der jeweiligen Schutzperson in der politisch-sozialen Hierarchie. So geht es in diesem Kapitel auch um die Frage, was der Erhalt eines Personenschutzkommandos im täglichen politischen Raum bedeutete. Besonders Bundestagsabgeordnete - als Einzelne in einer Masse von 518 Mitgliedern kaum sichtbar - rangen nach 1977 um die gleichen Insignien der Macht, wie sie der Top-Elite aus Kanzler und Ministern zustanden. Wer entschied also...

Schlagzeile

Im Fadenkreuz der RAF

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