0

Die versprengten Deutschen

Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am schwarzen Meer

Erschienen am 19.08.2005
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783552053540
Sprache: Deutsch
Umfang: 240 S.
Format (T/L/B): 2.4 x 20.8 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Elektrenai, 1962 als "erste atheistische Stadt der Sozialistischen Sowjetrepublik Litauen" aus dem Boden gestampft; Smolník, die mittelalterliche Bergbaustadt im Süden der Slowakei; Kudrjawka, eine vergessene Containersiedlung im ukrainischen Niemandsland: drei Orte in Osteuropa, drei Schauplätze deutscher Geschichte und Gegenwart. Von der Ostsee bis ans Schwarze Meer ist Karl-Markus Gauß, der literarische Kartograph des unbekannten Europa, gereist, auf der Suche nach den versprengten Deutschen.

Autorenportrait

Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt. Er war von 1990 bis 2022 Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon, dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis, dem Jean-Améry-Preis und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei Zsolnay erschienen zuletzt Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019), Die unaufhörliche Wanderung (2020) und Die Jahreszeiten der Ewigkeit (2022).

Leseprobe

2 Mit zehn Jahren hatte Luise Quietsch ihre Muttersprache vergessen, mit 45 fand sie sie wieder. 1950, als sie nicht mehr wußte, daß sie jemals Deutsch gesprochen hatte, glaubte sie, ihr früheres Leben nur geträumt zu haben. Sie lebte damals seit fünf Jahren in einer litauischen Familie, bei einem Schuster und einer Lehrerin, die bereits zwei erwachsene Kinder hatten und sich mit ihr nur litauisch unterhielten, in einer Sprache, die sie anfangs nicht verstand, dann rasch erlernte. Die beiden hatten sie 1945 aufgenommen, als sie, verwahrlost, halb verhungert, noch keine sechs Jahre alt, um ihr Haus geschlichen war und um Nahrung gebettelt hatte. Luise zählte zu den zahllosen deutschen Kindern, die in den Wirren des Kriegsendes aus Ostpreußen nach Litauen gelangten: manche im Troß der Roten Armee, andere auf den Dächern von Zügen, viele zu Fuß, mit ihren Geschwistern, in Rudeln von Waisen, deren Mütter verhungert, an Typhus gestorben oder vergewaltigt und erschlagen worden waren; in Banden von drei- bis vierzehnjährigen Kindern, die ihre Eltern in dem alles durcheinanderhetzenden, aufscheuchenden Finale eines Krieges verloren hatten, als Tausende westwärts flohen, die ersten Rotarmisten plündernd durch die Dörfer streiften und die letzten Mannschaften der SS Jagd auf Deserteure machten. Ostpreußen, das war die alte Provinz zwischen Königsberg und Tilsit, territorial einst dem Herzogtum, dann dem Königreich der Preußen, schließlich dem Deutschen Reich zugehörig, doch stets ein Land vieler Völker, in dem die geflohenen Protestanten aus Salzburg Aufnahme fanden, holländische Mennoniten ihr Glück suchten, viele angestammte Litauer ebenso lebten wie die Nachkommen von solchen, die im 19. Jahrhundert, der vielgepriesenen ostpreußischen Freiheit wegen, aus dem zaristisch besetzten Teil Litauens hierher geflohen waren. Ostpreußen war spät, aber dann in verheerendem Ausmaß zum Kriegsgebiet geworden. Der Krieg, der von Deutschland ausgegangen war, fand hier, am östlichen Rand des Deutschen Reiches, ein Ende, das noch jahrelang keinen Frieden bedeutete, sondern willkürliche Strafaktionen, Deportationen, ethnische Säuberungen. Im Herbst 1944 war die Rote Armee ins Land vorgestoßen, hatte die Flüchtlingstrecks gestoppt, manchenorts deren Besatzungen erschossen oder die Kräftigen unter den Flüchtlingen ins Innere der Sowjetunion verschleppt, von wo viele nie, andere erst nach zehn Jahren zurückkehrten. Wer überlebte und nicht deportiert wurde, erhielt die Anweisung, in sein Heimatgebiet, in die ostpreußischen Dörfer zurückzukehren, die mit dem zerstörten Königsberg auf der Konferenz von Jalta der Sowjetunion zugeschlagen wurden. 1948 wurden die Heimgekehrten vollzählig aus dem Kalinigradskaja Oblast vertrieben, der bis zum Zerfall der Sowjetunion eine militärische Sperrzone war und seither eine russische Enklave bildet, die von russischem Territorium aus nur über Litauen, Polen oder die Ostsee zu erreichen ist. 1945, nach einem Krieg, in dem Städte ausradiert, Länder verwüstet wurden und sich die Leichen zu Berge türmten, hatten die zu Waisen gewordenen ostpreußischen Kinder weder mit Beachtung noch Mitleid zu rechnen. Als kleine, zerlumpte Banditen mußten sie selber für ihr Überleben sorgen. Ihre Väter waren gefallen oder gefangen, die Mütter, stets die ersten in den Familien, die verhungerten, weil sie die Nahrung, die sie benötigten, ihren Kindern gaben, hatten sie oft selbst begraben müssen. Luise Quietsch stammte aus einem Weiler namens Schwesterndorf und war, nachdem Mutter und Tante gestorben waren, mit ihren Geschwistern aufgebrochen. Sie war fünf Jahre alt und sagte sich beständig, wie es ihr die sterbende Mutter aufgetragen hatte, vor: 'Ich bin Luise Quietsch.' Eines Tages, irgendwo, fand sie die Geschwister nicht mehr und zog mit anderen Kindern weiter, durch verlassene Dörfer, aus denen sie sich holten, was sie fanden, vorbei an Bauerngehöften, in denen oft eines der Kinder bleiben durfte, weil die Bauern ein Herz hatten Leseprobe